Erst denken…

31. März 2019 2 Von jule

Ich spüre, wie das Wasser über mich läuft. Ich lehne meinen Kopf nach hinten, damit meine Mascara nicht noch mehr verschmiert, als sie es ohnehin schon tut. Ich spüre, wie das Wasser an meinen Ohren vorbei läuft, Geräusche um mich herum abdämpft und mich in meiner eigenen kleinen Welt versinken lässt. Habe ich richtig gehandelt? War es nach dem Gesetz richtig? War es moralisch richtig? War es für mich selber richtig?

Andere sagen: ja, klar. Das war total mutig von Dir, das hätte ich mich nicht getraut. Meine Mama sagt: geht’s Dir noch gut? Dir hätte sonst was passieren können. Und ich selber sage: joa, ist jetzt halt so passiert, ich habe halt einfach gehandelt.

Vielleicht eine sehr banale Situation, die mich aber trotzdem zum Nachdenken gebracht hat: nach dem Sportunterricht kommen wir zurück in die Umkleide, als ein Mann gerade raus geht. Aus der Mädchenumkleide versteht sich. Ich schaue, ob mein Handy noch da ist. Ja, ist es. Mein Portemonnaie auch, es fehlt auch kein Geld. Eine Freundin neben mir sagt aber: der hat mein Geld geklaut. Ich sage: ja, los, renn ihm doch hinterher. – Nein, das lohne sich doch gar nicht, bekomme ich da nur als Antwort zu hören. Ich persönlich bin aber ein Mensch, der in solchen Situationen schnell auf 180 ist und dann dementsprechend auch vielleicht kopflos handelt. Also bin ich hinterher. Dass der Mann nicht stehen bleiben würde, war schon klar. Ich habe also versucht, ihn aufzuhalten, durch Worte. Er hat nur karg geantwortet, er verstehe kein Deutsch und habe kein Handy. Das Handy war mir relativ egal, ich wollte wissen, was er in der Umkleide gemacht hat. Er wollte aber nicht mit sich reden lassen, hat versucht mich wegzustoßen, mit einer kleinen Armbewegung. Das hält vielleicht andere Leute davon ab, weiter auf ihn einzureden, mich aber leider gar nicht, mich stachelt so etwas eher an. Deutsch als Barriere? Kein Problem, dann halt Englisch. Ich habe wirklich alles versucht, er ließ aber leider nicht mit sich reden. Klar, warum sollte ich mich auch als etwa 50-jähriger Mann von einem 1,60m großen Mädchen bei irgendetwas aufhalten lassen? Das ist eine super-scheiß Einstellung, das ist mir durchaus bewusst, aber das spiegelt leider auch die Realität wieder. Ich bin einfach schwächer als so ein Mann, da kann ich noch so viel auf ihn einreden, noch so viele Sprachen sprechen, noch so viel versuchen, nur zu denken, er wollte auf die Toilette gehen, noch so naiv und gutgläubig sein.

Als die Polizei dann da war und das Formelle geklärt hatte, bin ich noch zu der Polizistin hin und habe ihr gesagt, dass er versucht hat, mich zur Seite zu stoßen. Aber war das wirklich notwendig? Mir persönlich hat der Mann nichts getan. Er hatte nicht viel Geld und hat wahrscheinlich aus Not heraus gehandelt. Wenn ich ihn mit so einer Aussage noch weiter belaste, fände ich das sehr unfair. Wir beide hätten davon nichts. Es ist nichts weiter passiert. Er hat aus dem Affekt heraus gehandelt, weil ich ihn wahrscheinlich einfach konfrontiert und damit überfordert habe, vielleicht hat er Panik bekommen. Laut dem Gesetz habe ich natürlich das Richtige getan – ich habe beschrieben, was passiert ist. Aber ungefragt, ich hätte auch einfach nichts sagen können. Er tat mir in bisschen leid, Menschen machen so etwas nicht ohne Grund. Andererseits leben wir in Deutschland, da gibt es immer Wege, um Probleme zu lösen, vor allem Probleme mit Geld.

Ich kenne diesen Mann nicht, genauso wenig wie seine Geschichte. Ich kann seine Situation nicht beurteilen, ich kann lediglich meine Sichtweise darstellen, und das ist jetzt nun mal meine.

Es gibt aber noch zwei andere Punkte zu dieser Geschichte: tut nicht das gleiche wie ich. Ja, es ist vielleicht Zivilcourage. Aber kein Mensch weiß, was das Gegenüber bei sich hat. Wenn er ein Messer herausgezogen hätte, hätte ich keine Chance gehabt. Behaltet einfach einen kühlen Kopf, behaltet Abstand. Ich habe in dem Moment einfach aufgehört zu denken und genau das, was ich früher gar nicht konnte, getan: ich habe meinen Emotionen freien Lauf gelassen. Ja, das ist nicht schlecht. Aber es ist schlecht, wenn man dadurch aufhört zu denken, wenn man anfängt, instinktiv zu handeln. Bei mir ist das dann immer so, dass ich mich fühle, als ob ich in einer Trance, einer Art Traum wäre. Ich habe das oftmals, wenn mich etwas emotional total trifft. Ich handle dann einfach nur noch, ich höre auf, darüber nachzudenken. Und das ist besonders in solchen Situationen gefährlich.

Der zweite Punkt ist meine Naivität. Ja, ich hatte kurz den Gedanken, dass er weiter handgreiflich werden könnte. Aber auf die Idee, dass er ein Messer oder sonstiges bei sich haben könnte, bin ich natürlich gar nicht erst gekommen. Ich dachte auch, vielleicht hat er gar nichts gestohlen, vielleicht wollte er nur auf die Toilette gehen oder kurz telefonieren. Es ist nicht schlecht, in Menschen das Gute zu sehen. Aber man muss echt verdammt nochmal aufpassen. Die Welt besteht leider nicht nur aus guten Menschen, sie ist nun mal kein Ponyhof. Und ich habe echtes Glück, dass mir da draußen noch nichts wirklich Schlimmes passiert ist. Ich möchte nicht anfangen, in Menschen negative Dinge zu suchen – das könnte ich von meiner Art her auch gar nicht. Aber ich muss anfangen, Dinge zu hinterfragen, Situationen zu hinterfragen, Menschen zu hinterfragen. Einfach um mich selber zu schützen.

Mir ist da letztens noch eine klitzekleine naive Sache passiert, ich werde versuchen, noch ein bisschen über meine Naivität – und welche Vorteile sie mir vielleicht auch bietet – nachzudenken und dann dazu was zu schreiben.

Bis dahin: erst Kopf einschalten, dann handeln 😉